Geschichte des Fachverbandes
Die Evangelische Obdachlosenhilfe e.V. ist und bleibt Hilfe für Menschen in Not; in sozialer, materieller, gesundheitlicher und psychischer Not. Der besondere Fokus gilt der fehlenden Wohnung, der abhanden gekommenen Beheimatung und den verlorenen sozialen Wurzeln. Aber Ursachen und Folgen sind weit breiter, als dies je durch Begrifflichkeit zu fassen wäre. Die bisherigen Bezeichnungen der Evangelischen Obdachlosenhilfe sind Reflexe der jeweiligen Zeit und Epoche; sie reduzieren aber sowohl die Betroffenen als auch die Hilfsangebote auf Teilaspekte, häufig degradieren sie auch. Für eine mobile, auf das individuelle Wohl bedachte Gesellschaft bildet die Wohnung das Beziehungsnetz ab, in dem der Einzelne sich bewegen will. Auch die Wohnung ist nicht alles, aber ohne Wohnung oder Beheimatung ist fast alles nichts. Daher ist die Evangelische Obdachlosenhilfe mitsamt ihrer diakonischen Fachlichkeit beides: Hilfe für Menschen in Not – und deren gesellschaftliche Lobby, aber auch kritisches Potential im Spannungsfeld von Armut und Reichtum in unserer Gesellschaft – mit besonderem Blick für die Entwicklung des Wohnungsmarktes.
Zur Geschichte 1886 - 1988
1886 wurde dieser Fachverband mit der Bezeichnung "Deutscher Herbergsverein" als Hilfe für sog. Wanderarme gegründet. Er verfolgte mit seinen Einrichtungen den "Arbeiterkolonien", den "Wanderarbeitsstätten" und den "Herbergen zur Heimat" das ordnungs- und sozialpolitische Ziel des geordneten Wanderns als Arbeitsvermittlung und als Bekämpfung der Bettelei. Die nicht Vermittelbaren wurden in Heimen und Anstalten untergebracht, mit der Verpflichtung zur Arbeit ohne Lohn und Versicherung als Gegenleistung für Unterkunft und Verpflegung.
In den 20er Jahren und dann vor allem während der NS-Zeit setzte sich ein individual-pathologisches Verständnis von mobiler Armut und Obdachlosigkeit durch, demzufolge es neben der "normalen, seßhaft veranlagt" lebenden Bevölkerung auch eine Gruppe von Menschen gibt, die "nicht seßhaft veranlagt" oder aufgrund einer "abnormen Persönlichkeitsstruktur“ in eine nicht seßhafte Lebensweise verfallen, also in diesem Sinne nicht "seßhafte Menschen“ seien. Diese Denktradition mit ihren individuellen, überwiegend medizinisch-psychiatrischen Erklärungsansätzen fand noch 1961 – zumindest begrifflich – Eingang in das BSHG und war auch noch im Jahr 1967 ausschlaggebend für den Namenswechsel von "Deutscher Herbergsverband“ in "Ev. Fachverband für Nichtseßhaftenhilfe“.
Die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dieser stigmatisierenden und sozial diskriminierenden Zuschreibung und der damit verbundenen völlig unzureichenden Hilfe für diesen Personenkreis haben zu Beginn der 70er Jahre zu einem neuen Verständnis geführt: "Nichtseßhaftigkeit“ ist ein Problem von Armut und Unterversorgung alleinstehender wohnungsloser Männer und Frauen. Es sind Menschen in besonderen Lebenslagen, nämlich wohnungslos mangels ausreichender Existenzsicherung, gesellschaftlich isoliert und verachtet, nicht eingebunden in private Solidarbeziehungen und Netzwerke. Wir sprechen heute von wohnungslosen Menschen und meinen damit die ganze Breite von armen und ausgegrenzten Menschen ohne eigene Wohnung, ordnungsrechtlich in Wohnunterkünften untergebracht, in prekären und unzumutbaren Wohnverhältnissen und dergleichen. Die Wohnsituation ist bei diesem Personenkreis ein zentrales, aber nicht das alleinige Merkmal seiner durch soziale Schwierigkeiten beschriebene Lebenslage.
Der Ev. Fachverband hat sich vor allem um die Überwindung des Widerspruchs zwischen der Rechtsnorm und der Praxis, insbesondere bei der Gewährung der Sozialhilfe eingesetzt, so beispielsweise durch die Unterstützung wegweisender Prozesse zur Durchsetzung der Rechte wohnungsloser Menschen. Zugleich entstanden neue Arbeitsschwerpunkte:
Sicherung der materieller Existenzansprüche, Wohnungsbeschaffung, Unterstützung bei der Verwirklichung rechtlicher AnsprücheBeratung in persönlichen AngelegenheitenHilfe bei der Arbeitssuche, Vermittlung von therapeutischen Hilfen usw..
Die Differenzierung des Hilfeangebotes seit 1988
Der Aufbau eines ambulanten und gemeindenahen Dienstes (Zentrale Beratungsstellen u.a.) veränderte grundlegend das traditionelle Hilfesystem der stationären Einrichtungen. Auch die Fixierung auf den männlichen alleinstehenden Wohnungslosen wurde überwunden. Die Probleme wohnungsloser Frauen traten in das Blickfeld der HiIfe.
Die Abwendung von der überkommenen "Nichtseßhaftenhilfe“ fand 1988 ihren Ausdruck auch in der Umbenennung des Fachverbandes in "Ev. Obdachlosenhilfe“.
Die derzeit insgesamt 22 Mitglieder des Fachverbandes sind die Landesfachverbände bzw. gliedkirchlichen Diakonischen Werke, wenn keine regionalen Fachverbände bestehen. In diesen Fachverbänden sind die evangelischen Einrichtungen und Dienste zusammengeschlossen, die heute ein breites und vielfältiges Angebot für Obdachlose und von Obdachlosigkeit bedrohe Menschen bereitstellen.
Dazu gehören, um nur einiges zu nennen: TagesaufenthalteWärmestuben, Straßensozialarbeit, mobile medizinische Dienste, Beratungsstellen, aufsuchende Hilfe, Arbeit und Beschäftigung, Wohnheime und Wohngruppen für verschiedene Zielgruppen und für unterschiedliche Hilfebedarfe. Es gibt heute also ein differenziertes Hilfeangebot, das sich an der besonderen Lebenslage dieses Personenkreises orientiert. Daraus ergeben sich für den Verband drei Themenbereiche.
- Die fachlich- konzeptionelle Weiterentwicklung der Hilfe für wohnungslose Menschen.- Die Einflussnahme auf die rechtlichen Rahmenbedingungen
- Die sozialpolitische und sozialethische Auseinandersetzung um Armut und Ausgrenzung
Die Evangelische Obdachlosenhilfe engagiert sich nach außen gegen den Rückbau und für die Weiterentwicklung des Sozialstaates. Sie vertritt die Interessen der Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten und arbeitet konzeptionell an der Ausgestaltung der Arbeit. Sie wirkt nach innen durch die Moderation und Initiierung der fachlichen Weiterentwicklung und die Entwicklung/Überprüfung von Standards und unter Einbeziehung aller Ebenen die Gestaltung und Planung von Fortbildungskonzepten, der Öffentlichkeitsarbeit und die Durchführung von Tagungen.
Evangelische Obdachlosenhilfe ist tätige Solidarität, analytische Kraft und gesellschaftsverändernde "Liebe in Strukturen“. Die jeweilige Terminologie darf uns nicht schrecken. Es kommt auf uns an, auf unser Handeln, Denken und Lieben. Unsere Aufgabe ist es, Situationen der Ausweglosigkeit in Situationen des Segens zu wandeln, an dem Am-Ende-Sein von Menschen Neues zu schaffen und Hoffnung zu wecken. Jede Krise will als Chance begriffen werden. Wo dies geschieht, bedeutet unsere Arbeit die Freiheit der Kinder Gottes und trägt zu einer Kultur von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bei: Soforthilfe wird gegeben, wo sie Not tut, Eigenständigkeit wird nach Kräften gestärkt und Hilfe zur Selbsthilfe geleistet.
"In seiner Freiheit von mir will der Andere geliebt werden als der, der er ist, nämlich als der, für den Christus Mensch wurde." (Dietrich Bonhoeffer)
Auszüge aus: Dr. Wolfgang Gern: "Die Evangelische Obdachlosenhilfe e.V." Anmerkungen zu Geschichte, Konzepten und Perspektiven" Frankfurt, den 15.Oktober 2001 - Historischer Teil geschrieben von Martin Berthold.